Psychische Gesundheit - erhalten und wiederherstellen
Weltgesundheitstag 2001
Der Weltgesundheitstag 2001 war Anlass, in der Öffentlichkeit auf die Bedeutung psychischer Störungen aufmerksam zu machen, über psychische Krankheiten zu informieren und das Verständnis für Betroffene zu fördern. Zur Auftaktveranstaltung hatten der Verband der bayerischen Bezirke und die LZG am 14. Mai 2001 nach Augsburg geladen. Das Motto der Weltgesundheitsorganisation, „Mental Health: Stop Exclusion – Dare to Care“, wurde für Deutschland übertragen in „Psychische Gesundheit – erhalten und wiederherstellen“.
Zum Wesen psychischer Krankheiten lassen sich mindestens drei Sichtweisen unterscheiden: die in der Bevölkerung verbreiteten Sichtweisen und Vorurteile, die aus eigener Erfahrung gewachsene Sichtweise der Betroffenen und die aus unmittelbarer Beobachtung abgeleiteten Vorstellungen der Fachleute. Erst die Zusammenführung aller drei Perspektiven kann ein realitätsnahes Bild vom Wesen von der Bedeutung psychischer Erkrankungen ergeben.
Prof. Dr. Johannes Gostomzyk, LZG
Psychiatrische Versorgung in Bayern auf beachtlichem Stand
Staatsministerin Christa Stewens eröffnete die Veranstaltung mit einem Referat über „Die Weiterentwicklung der Psychiatrie in Bayern“. Die bisherige Politik der Enthospitalisierung psychisch Kranker und der Ausbau ambulanter Dienste würden fortgesetzt, sagte sie. Die gemeindenahe psychiatrische Versorgung in Bayern habe, auch im bundesweiten Vergleich, einen beachtlichen Stand erreicht. Sozialpsychiatrische Dienste, betreute Wohnformen und der wachsende Einfluss von Selbsthilfegruppen waren und sind entscheidende Beiträge für diese Entwicklung. Zukunftsaufgaben seien die Entwicklung der psychischen Versorgung alter Menschen („Gerontopsychiatrie“) und die Förderung der Zusammenarbeit aller an der psychiatrischen Versorgung Beteiligten. Derzeit werde an einem „Hilfengesetz für psychisch kranke Menschen“ und am dritten Bayerischer Landesplan zur Versorgung psychisch kranker und behinderter Menschen gearbeitet.
Vorurteile abbauen
Ludwig Schmid, Regierungspräsident von Schwaben, und Dr. Georg Simnacher, Bezirkstagspräsident von Schwaben und Präsident des Verbandes der bayerischen Bezirke, betonten die Leistungen zur stationären und ambulanten Versorgung psychisch Kranker in Schwaben und in ganz Bayern. Sie sehen im weiteren Abbau noch immer spürbarer Stigmatisierung der Betroffenen in der Bevölkerung eine wichtige Aufgabe.
Wie viele Menschen sind von psychischen Erkrankungen betroffen?
„Das Spektrum psychischer Erkrankungen reicht von solchen, die für ihre Umgebung kaum erkennbar sind, bis hin zu schweren Veränderungen mit gesellschaftlicher Stigmatisierung und Ausgrenzung“, sagte Prof. Johannes Gostomzyk, 1. Vorsitzender der LZG. Dieser Umstand und auch die Tatsache, dass sich statistische Angaben über die Häufigkeit psychischer Erkrankungen meist auf spezielle Personengruppen wie Berufstätige oder bestimmte Schweregrade einer Krankheit beziehen, führe dazu, dass die genaue Zahl psychisch Kranker in der Bevölkerung nicht bekannt sei. Bemerkenswert sei, dass psychische Erkrankungen bei Frauen in den alten Bundesländern heute die häufigste rentenauslösende Krankheit bei Frühzugängen in der Rentenversicherung darstellen: ihr Anteil sei von 8,56% im Jahr 1983 auf 28,6% im Jahr 1999 angestiegen. Bei den Männern stieg dieser Anteil im gleichen Zeitraum von 8,4% auf 18,7% aller Fälle.
Volkskrankheit Depression
Depressive Störungen zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Sie äußern sich durch Symptome wie tiefe Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, Schlafstörungen und Interessenverlust. „Depression ist keine ‚Befindlichkeitsstörung‘, sondern eine ernst zu nehmende Krankheit“, betonte der Sprecher des „Kompetenznetzes Depression“, Prof. Dr. Ulrich Hegerl von der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Unterschätzt oder nicht erkannt, kann die Erkrankung lebensbedrohlich werden: 15% aller Patienten mit schweren Depressionen nehmen sich im Laufe ihrer Krankheit das Leben.
Obwohl es heute wirksame Behandlungsmöglichkeiten gibt, erhalten derzeit nur etwa 10% der Betroffenen eine Behandlung, die dem Stand der Forschung entspricht. Das Großforschungsprojekt „Kompetenznetz Depression“ hat sich zum Ziel gesetzt, Forschung und Behandlung besser zu vernetzen. Gleichzeitig will man die Öffentlichkeit über die Krankheit informieren und ein Klima des Verständnisses für Betroffene schaffen. „Psychisch Kranke werden in unserer Gesellschaft immer noch anders behandelt als körperlich Kranke“, sagte Hegerl. Gemäß der Devise „jeder ist mal depressiv“ würden die Leiden der Betroffenen oft verharmlost. Viele Patienten hätten daher Angst, offen zuzugeben, dass sie an einer psychischen Erkrankung leiden.
Ein Teil des „Kompetenznetzes Depression“ ist das „Nürnberger Bündnis gegen Depression“. Im Rahmen dieses Pilotprojektes werden Ärzte und Multiplikatoren wie Pfarrer oder Altenpflegekräfte in der Erkennung depressiver Störungen geschult. Die Information der Öffentlichkeit über depressive Störungen soll dazu beitragen, dass es Betroffenen in Zukunft leichter fällt, sich zu ihrer Erkrankung zu bekennen.
Menschenbilder in der Psychiatrie – ein Spiegelbild des Zeitgeistes
Dr. Michael von Cranach, Ltd. Ärztl. Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, wies auf die Bedeutung hin, die das in der Gesellschaft vorherrschende Menschenbild für das Verständnis psychiatrischer Erkrankungen und die Behandlung Betroffener habe. Die Qualität der Beziehung zwischen Arzt und Patient gehe heute „weg von der paternalistischen Grundhaltung hin zu einem partnerschaftlichen Miteinander, in dem der Patient nach offener Information autonom über Ziele und Wege der Therapie entscheidet“. Mit der Zunahme von Freiräumen in der Gesellschaft und mit dem hohen Stellenwert einer individuellen Lebensgestaltung, mit einer zunehmenden Toleranz des Andersseins verändere sich auch psychiatrisches Handeln. Dies zeige sich z.B. in der wachsenden Bedeutung von Selbsthilfeverbänden, in der veränderten Gesetzgebung und in der Formulierung der Grundrechte behinderter Menschen in der EU-Charta.
Die Situation psychisch Kranker lässt sich nur schwer nachvollziehen
Auf die besondere Dimension psychischer Erkrankungen wies Gottfried Wörishofer vom Verband Münchner Psychiatrie-Erfahrene (MüPE) e.V. in einem eindrucksvollen Vortrag hin. Psychische Erkrankungen beeinträchtigen das gesamte Leben der Betroffenen, „das Verhältnis zu den Mitmenschen, zur Welt im Ganzen, einschließlich und vielleicht in erster Linie zu sich selbst“. „Eine Distanzierung von ‚sich selbst‘ wird unmöglich, eine zielführende Selbst-Sorge kann nicht mehr gelingen“, schildert Wörishofer die Situation Betroffener. Aus ihrer Sicht sei es dringend erforderlich, die Behandlung psychischer Erkrankungen weniger als „kurzatmige Wiederherstellung“ sondern vielmehr als „langfristige, aber nachhaltige Genesung“ zu gestalten:
"Genesung meint eben nicht ein Herstellen, Produzieren und 'Machen' von Gesundheit, sofern dies überhaupt möglich wäre. Genesung meint das langsame, dem Menschen Zeit einräumende, von ihm auch Geduld verlangende Suchen, Finden und Wirkenlassen von steigernden und hebenden Möglichkeiten. Stets, wenn ein therapeutisches Geleit zustande kommt, ergibt sich die Möglichkeit einer Höherführung des Lebensweges, die jedoch nicht mit einer Gängelung des Patienten verwechselt werden darf. Es gibt nach meinem Dafürhalten keine allgemein anerkannte Straße, auf die man nur hingewiesen oder hingestellt werden bräuchte und schon nehme sie einen mit nach oben. Dieser Weg entsteht erst im Gehen und nur im Gehen ... Der Patient könnte (und sollte) sich als ein Lernfähiger entdecken". (Wörishofer)
Psychische Gesundheit alter Menschen erhalten und fördern
Auf die Bedeutung psychischer Krankheiten im Alter („gerontopsychiatrischer Krankheiten“) wies Dr. Klaus Nißle, Ärztl. Leiter der gerontopsychiatrischen Abteilung am Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren, hin. Ein hoher Anteil alter Menschen in Deutschland leide an einer Demenz, die Mehrzahl von ihnen an der so genannten „Alzheimerschen Krankheit“. Auch Depressionen seien bei älteren Menschen nicht selten. Um psychischen Erkrankungen im Alter vorzubeugen, sie ggf. im Frühstadium zu erkennen und Erkrankte besser versorgen zu können, forderte Nißle eine verstärkte Zusammenarbeit von Betroffenen, Angehörigen und Therapeuten unterschiedlicher Fachrichtungen. Für Hausärzte, Pflegepersonal und andere Betreuungspersonen sei eine gerontopsychiatrische Fortbildung erforderlich. In den Gemeinden könnten so genannte „Gerontopsychiatrische Zentren“ zur Vorbeugung bzw. Früherkennung von psychischen Krankheiten bei älteren Menschen beitragen.
Schutz und Unterstützung für Betroffene
„Die psychiatrische Versorgung hat in den letzten 25 Jahren bedeutsame Fortschritte erlebt“, betonte Prof. Dr. Max Schmauß, Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Augsburg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. Obwohl die Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch Kranker deutlich abgenommen habe, lebe sie – wahrscheinlich ungewollt – „in den Köpfen“ fort und könne Entscheidungen hinsichtlich der Versorgung Erkrankter beeinflussen. Gleichzeitig liege es in der Natur psychischer Krankheiten, dass die Betroffenen in ihren Möglichkeiten, ihre berechtigten Interessen durchzusetzen, benachteiligt seien: „Sie bedürfen dabei auch insbesondere künftig des besonderen Schutzes und der Unterstützung Dritter“, betonte Schmauß. Er stellte aus seiner Sicht Defizite in rechtlichen Regelungen zur Versorgung psychisch Kranker und zur Situation der Therapeuten dar.

