Wie eine ganze Stadt daran arbeitet, dass ihre Senioren so lange wie möglich zu Hause bleiben können
Prävention und Versorgung für Hochbetagte in der Stadt Rödental
Wolfgang Hasselkus, Gerhard Preß
Einleitung
Das Thema, das vorgestellt werden soll, beschreibt die Veränderungen in einer Stadt von 14.000 Einwohnern, in der durch Ideen und Engagement eine weitreichende Versorgung und Prävention für Hochbetagte (85 Jahre und älter) aufgebaut wurde. Dahinter stehen die Erfahrungen eines Hausarztes, der durch die jahrzehntelange Tätigkeit mit seinen Patienten gesehen hat, woran es in der Versorgung der ganz alten Menschen fehlt und was getan werden kann, damit sie länger selbstständig zu Hause bleiben können. Dazu kam der glückliche Umstand, dass der Hausarzt im 1. Bürgermeister der Stadt, im Stadtrat, in der AWO und in der Wohnbaugesellschaft des Landkreises Coburg starke Partner fand und so die Ideen von Versorgung und Prävention Schritt für Schritt umgesetzt werden konnten. Das Netzwerk der Partner, die gegenseitige Ergänzung und die vertrauensvolle Zusammenarbeit machten es letztlich möglich, dass eine solche Vielzahl von innovativen und erfolgreichen Projekten entstand. Die zuletzt angepackten Projekte im Quartier sind noch nicht evaluiert (Oktober 2010). Manche Projekte wurden bereits von anderen Kommunen übernommen.
I. Integrierte Stadt- und Entwicklungsplanung
Senioren haben sehr klare Vorstellungen über Positives und Negatives in ihrer Stadt.
In einer ersten Befragung 2002 wurden acht Bereiche thematisiert. Dabei sehen Senioren nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch ihre Stadt aus einer einzigen Sicht: Wie kann ich so lange wie möglich selbstständig bleiben? Die acht zu verbessernden Bereiche lauten dann: Stolperfallen im Zentrum; sichere Übergänge für Senioren und Benutzern von Rollatoren; bessere Seniorenkompetenz in den Geschäften (Ausweisung von Toiletten und Ruheplätzen); sich von selbst öffnende Türen der Geschäfte im Zentrum; öffentliche Toiletten; strategisch angebrachte Bänke, um die Mobilität zu erweitern; bessere seniorengerechte Gestaltung in und um den Stadtbus; größere Schrift beim Fahrplan; finanzierbare häusliche Versorgung und: weg vom seniorenfeindlichen Naturkopfsteinpflaster.
Barrierefreie Gestaltung des öffentlichen Raumes: Die Themen der ersten Befragung aus 2002 wurden in den folgenden Jahren umgesetzt. Die Stolperfallen sind beseitigt, besondere Stufen sind farblich markiert. Ein neuer breiter Übergang im Zentrum mit Absenkung der Bürgersteige, Einengung der Fahrbahn und Beschränkung der Geschwindigkeit wurde geschaffen. Im Zentrum konnten mehrere Geschäfte eine selbst öffnende Tür anbringen, was das Einkaufen mit Rollator wesentlich erleichtert. Eine öffentliche Toilette ist im Zentrum vorhanden. Das Stadtbuskonzept wurden verbessert (neue Busse, Schriftgröße der Fahrpläne). Die medizinische Versorgung ist überdurchschnittlich gut.
II. Häusliche Versorgung
Eine wirksame Versorgung zu Hause für den Fall, dass die Kräfte nachlassen, war bereits bei der ersten Befragung 2002 von den Senioren gewünscht worden. Diese Versorgung muss auch finanzierbar sein. Der Hausarzt weiß, dass die Hochbetagten zudem auch motorische Hilfe brauchen, Übungen und Training, wenn die Stürze beginnen. Stürze sind ein häufiger Einweisungsgrund und eine der Ursachen, um ins Heim zu gehen. Aus diesen Ideen entstand das Konzept der "Häuslichen Hilfen": häusliche Versorgung und motorisches Training bei Hochbetagten. Die "Häuslichen Hilfen" führen keine pflegerischen Tätigkeiten durch. Sie kosten 8,50 Euro pro Stunde.
Konzept und Ziele der "Häuslichen Hilfen"
- aufgebaut auf einem Vertrauensverhältnis zu den betreuten Senioren;
- immer die gleiche Bezugsperson;
- bestimmt vom Leitgedanken der Fürsorge (Ethische Standards für die Mitarbeiter im Konzept der "Häuslichen Hilfen" im Landkreis Coburg, März 2010)
- will durch ein Mischung von Hilfen in Haus und Wohnung, von Begleitung mit "Herz und Zeit", von Hilfen zur seniorengerechten Wohnung, von motorischem Training zu Hause und Prävention von Stürzen die Zeit der Hochbetagten zu Hause stabilisieren
2004 wurde mit einer Mitarbeiterin begonnen, inzwischen sind es 23. Die Arbeit der Mitarbeiter wird durch regelmasigen Dienstbesprechungen und Fortbildungen begleitet. Momentan werden 60 Hochbetagte regelmasig betreut und etwa 800 Arbeitsstunden pro Monat geleistet. Viele Hochbetagte konnen deswegen zu Hause bleiben und brauchen nicht ins Altenheim umzuziehen. "Hausliche Hilfen" sind in neun Kommunen des Landkreises inzwischen etabliert (Tab.1).

III. Präventive Angebote
Seit 2004 werden Kurse in einem Fitnessraum von 50 m², seit 2008 in zwei Fitness-Räumen von insgesamt 230 m² angeboten. Das größere Studio ist komplett mit seniorengerechten Übungsgeräten ausgestattet. Insbesondere werden Hochbetagte und behinderte Ältere zu den Kursen eingeladen. Auf zwei Laufbändern wird unter Anleitung das Gangbild trainiert. Ein besonderes Thera Vital-Gerät hilft nach Schlaganfällen wieder mit der Koordination der Beine. Stand 2010: 7 Übungsgruppen mit 2.081 Teilnehmern in 264 Veranstaltungen (Tab.2)

Eine wesentliche Verbesserung der Erfolge in der Prävention konnte durch die Kurse mit den Galileo-Therapiegeräten erreicht werden. Das Galileo-Wirkprinzip: Es trainiert Muskeln mit Hilfe von mechanischen Schwingungen. Diese Reflexe führen zu mehreren tausend von schnellen und präzisen Muskelbewegungen pro Trainingseinheit. Indikation und Kontraindikation werden streng beachtet. Somit wird das Galileo-Gerät bei älteren Menschen eingesetzt bei: Sturzprävention, Behandlung der Osteoporose, Steigerung von Muskelleistung und Muskelkraft, chronische Rückenschmerzen, Inkontinenz (Training der Beckenbodenmuskulatur), Training der Koordination, Lockerung der Muskulatur bei Kontrakturen.
Auswertung der etwa bisherigen Kurse mit dem Galileo-Therapiegerät: Mehrere tausend Senioren haben bisher an den Kursen teilgenommen. Die Muskulatur wird kräftiger; sie können besser und sicherer gehen; der Alltag gelingt besser; die Inkontinenz geht zurück; die Schmerzen im Rücken und an den Muskelansätzen lassen nach. Es hilft auch bei chronisch neurologisch Erkrankten gegen den Muskelverfall und Versteifung wie Multipler Sklerose, Morbus Parkinson sowie nach Schlaganfall. Heimbewohner können im Sitzen vom Rollstuhl aus therapiert werden. Auch dabei lassen sich Verbesserungen der Beinmuskulatur und Rückgang der Inkontinenz nachweisen. Die Stürze bei allen Hochbetagten sind in zwei Jahren um 33% zurückgegangen (Befragung). Stand 2010: 9 Galileo Gruppen mit 2.464 Teilnehmern in 342 Veranstaltungen. Wir haben noch nie erlebt, dass ein solches Angebot für Ältere in so kurzer Zeit so viel an Lebensverbesserung gebracht hat (Tab. 2).
IV. Ehrenamtliche Mitarbeiter sind der Schlüssel
Mitarbeiter lassen sich gewinnen, wenn folgende Bedingungen stimmen: Sie verstehen eine Vision und werden davon angesteckt, sie entscheiden frei über Beginn und Ende, sie werden nicht nur eingewiesen, sondern auch begleitet, sie tun etwas Bedeutsames, sie können anderen helfen, sie bekommen Anerkennung, sie erhalten die Möglichkeit, sich fortzubilden, d.h. sich weiter zu entwickeln und sie erkennen, dass ihr Einsatz etwas Gutes bewirkt. Bürgerschaftliches Engagement ist der Schlüssel. Die jüngeren Senioren müssen entdecken, dass eine Kommune, an der ich jetzt Hand anlege und sie positiv gestalte, mir dann helfen wird, wenn ich selbst älter werde. Der Seniorensport der Zukunft wird auch mit chronisch kranken Hochbetagten zu tun haben, denn viele Ältere leben mit wesentlichen Einschränkungen und hoffen auf Hilfe.
Der Seniorensport in Rödental schafft inzwischen auch eine erfolgreiche Vernetzung mit den Einrichtungen der Rehabilitation aus dem Umland. Seniorensport mit Spätrehabilitation und Prävention ist ein neuer Weg in der Kommune. Doch dazu braucht es ehrenamtliche Mitarbeiter. Im Frühsommer 2004 wurde der erste Kurs angeboten, in dem Mitarbeiter Sport für Hochbetagte lernen (24 Stunden). Der Kurs wird seitdem jedes Jahr durchgeführt. Inzwischen wurden über 120 Mitarbeiter ausgebildet. Die Nachfrage geht über Rödental hinaus. Jüngere Senioren werden ausgebildet, um älteren Senioren zu helfen.
V. Wohnen im Quartier
Das Quartierskonzept Schlesierstraße: Die Wohnanlage – eine typische 50er Jahre Siedlung – wurde als eines von 12 Projekten bayernweit in das Modellvorhaben Modellprojekt "WAL – Wohnen in allen Lebensphasen" der Obersten Baubehörde aufgenommen. Sie umfasst 115 Zwei- und Dreizimmerwohnungen mit einer durchschnittlichen Größe von 48 m² Wohnfläche.
Wohnprojekt und Gemeinschaftsraum: Neben regelmäßigen Bewohnertreffen wird der Raum auch für die Dienstbesprechungen der ehrenamtlichen Mitarbeiter und für andere Arbeitstreffen genutzt.
Präventionsprogramm "Fit für den Alltag!"
Bereits im März 2009 wurden Idee und Konzept eines "Fit für den Alltag!"-Programms entwickelt. Ehrenamtliche Mitarbeiter besuchen hochaltrige gestürzte und sturzgefährdete Senioren zu Hause und führen mit diesen zehn Wochen lang, zweimal pro Woche, Gleichgewichts- und Kraftübungen durch. Stürze sollen verhindert und die Selbständigkeit erhalten werden. Danach wird das Einzeltraining in einer Übungsgruppe weiter geführt (Fahrdienst). Neun ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden für das "Fit für den Alltag!" Programm ausgebildet. Sie werden durch regelmäßige Dienstbesprechungen begleitet. Es fanden zahlreiche Erstgespräche mit möglichen Teilnehmern und deren Angehörigen statt.
Präventionsprogramm Hausbesuche bei Hochbetagten zur Erfassung von Risikoindikatoren
Ausgelöst durch eine Verschlechterung einer chronischen Krankheit oder eine akute gesundheitliche Krise kommen Hochbetagte ins Krankenhaus und von dort häufig in die Kurzzeitpflege und danach in die Vollzeitpflege. 70% der über 85-Jährigen waren bayernweit im letzten Jahr im Krankenhaus.
Geschulte Ehrenamtliche führen jetzt wöchentliche Hausbesuche bei denjenigen Hochbetagten durch, die mitmachen wollen. Indikatoren wie Sauerstoffsättigung, Puls und Atemfrequenz werden gemessen. Besteht Fieber oder Luftnot? Zehn 10 Daten werden nach genau festgelegten und mit den Hausärzten abgesprochenen Kriterien erfasst und dokumentiert (Dokumentationsbogen). Gemessen wird u.a. mit einem Pulsoximeter. Es gibt eindeutige Kriterien für Verschlechterung ("red flags"). Dann wird der Hausarzt informiert.
Ziel des neuen Projektes ist es, frühzeitig gesundheitliche Krisen bei Älteren zu erkennen, Krankenhaushalte zu vermeiden und Unterbringungen ins Heim hinaus zu zögern. Das Projekt findet in Kooperation mit den Hausärzten Rödentals und dem Sozialministerium statt und wird von der Hochschule Coburg evaluiert.
VI. Weitere Befragungen 2006 und 2008
Vergleich der Befragungsergebnisse 2008 mit 2006 bei den Hochbetagten: Der Anteil der Bürger/innen = 85 Jahre stieg von 2006 nach 2008 um 144 = 33%. 2006 lebten 62% der Hochbetagten zu Hause, 2008 waren es bereits 70%. Der Anteil der = 85-jährigen Bürger/ innen, die zu Hause leben, hat sich von 2006 (n=179) bis 2008 (n=305) um 59% vergrößert. Beide Seniorenheime sind voll belegt.
Die Hochbetagten sind aktiver geworden. Durch den Rückgang der Versorgung durch die Angehörigen (86% auf 58%) sind Freiräume entstanden, die von den Hochbetagten genutzt werden: deutliche Zunahme der Selbstversorgung (2006: 12%, 2008: 65%). Entsprechend haben auch die allgemeinen Aktivitäten deutlich zugenommen.
Durch die weitreichenden Angebote der Prävention und Information konnte die Zahl der Stürze reduziert werden (von 46% auf 33%). Die Vergrößerung der Prävention von 2007 zu 2009 geschieht vor allem durch die Vergrößerung der Galileo-Trainingsgruppen infolge eines zweiten Gerätes: 2007: 220 Teilnehmer; 2009: 2.464 Teilnehmer. Trotzdem existiert eine große Kerngruppe von Hochbetagten mit Sturzkrankheit, die einer Intervention durch Prävention schwer zugänglich sind. Hier sollen die zugehenden Hilfen greifen. Die Wohnungen sind seniorengerechter und sicherer geworden. Ein Notruf ist jetzt bei 20% vorhanden (2006: 5%).
VII. Gesellschaftliche Teilhabe
Treff der Generationen: Ziel der Prävention ist es, die Rentner aus ihrem wohlverdienten, aber letztlich gefährlichen Ruhestand herauszuholen und ihnen neue Aufgaben, neue Interessen, neue Einsichten, neues Lernen, neues Kennenlernen und neue Ziele zu vermitteln, dabei auch ihre Fähigkeiten und Ideen einzusetzen. Der "Seniorentreff" der AWO liegt im Zentrum der Stadt. Mit mehreren Räumen, einem Cafe, zwei Computerarbeitsplätzen mit Internetzugang und einem Büro ist dieser Treff gut ausgerüstet. Er wird von einer Sozialarbeiterin betreut, die von der Stadt Rödental finanziert wird. Die Anzahl der Angebote und die Teilnehmerzahl vergrößern sich jedes Jahr. Im Jahr 2003 waren wir mit 481 Veranstaltungen und 3.160 Teilnehmern gestartet, im Jahr 2009 kamen 13.400 Teilnehmer zu über 1.500 Veranstaltungen. Die Teilnehmerzahl wurde 2010 gehalten.
VIII. Neue Schritte 2011
In den letzten Monaten haben sich verschiedene neue Partnerschaften entwickelt. Damit können mehrere neue, für alte Menschen wichtige Bereiche, erschlossen werden.
Aufbau eines Ernährungsteams für alte Menschen: In der Ernährung alter Menschen qualifizierte und erfahrene Mitarbeiter aus dem Krankenhaus Coburg haben ihre ehrenamtliche Mitarbeit angeboten. Alle Bürger 90 Jahre und älter wurden von der Stadt Rödental angeschrieben, dass sie von dem Ernährungsteam besucht werden (n=84). Es wird das Screening auf Mangelernährung (Nutritional Risk Screening, NRS 2002) durchgeführt. Die Zahl der Mangelernährten im Krankenhaus erreicht beunruhigend hohe Zahlen. Für die Kommune liegen noch keine vergleichbaren Daten vor. Die Evaluation ist wiederum mit der Hochschule Coburg vorgesehen. Das Projekt hat begonnen.
Ausweitung der Beratungstätigkeiten für ältere Menschen: Eine pharmakologische Beratung wird 2011 begonnen. Der Apotheker sieht mit uns die Notwendigkeit, bei den vielen Medikamenten im Alter, den Nebenwirkungen und den Interaktionen eine Beratung anzubieten.
Der VdK wird eine regelmäßige Beratung beginnen und auch eine Beratung für behinderte ältere Menschen wird anfangen. Die Beratung zur Wohnungsanpassung hat bereits begonnen und wird fortgeführt.
Weitergehende Hilfen für Menschen mit Demenz, die noch zu Hause leben: Durch eine Kooperation mit einer ambulanten Demenzgruppe (ReMental e.V. und ElanVital e.V.) haben wir angefangen, Hilfen für Demente und ihre Angehörige aufzubauen. Eine ambulante Demenzgruppe trifft sich täglich und bietet eine aktivierende familiäre Struktur an. Regelmäßige öffentliche Vorträge im Seniorenwohnprojekt Schlesierstraße sprechen Interessierte zum Thema Demenz an, aber auch andere Seniorenthemen werden angeboten. Das Memory Training und der Sport für Demente werden fortgeführt.
Eine Beratungsstelle für Angehörige von Dementen wird in der zweiten Hälfte des Jahres beginnen.
Kontakt
Dr. Wolfgang Hasselkus
Stadtrat und Seniorenbeauftragter
Nussleite 10, 96472 Rodental
Tel. 09563-8300
Hasselkus@t-online.de
Gerhard Pres
1. Bürgermeister der Stadt Rodental
Burgerplatz 1, 96472 Rodental
Tel. 09563-9630
www.roedental.de

